Das sind doch schon wieder zwei völlig unterschiedliche Analysedimensionen bzw. -ebenen, die du hier unzulässigerweise vermischt. Mir ging es um diese wenig wissenschaftliche Perspektive, dass Gesetzesänderungen quasi-objektive Reaktionen auf bestehende Problemlagen darstellen. Eine solche Sichtweise klammert die Akteure an sich aus und versucht rein funktional zu argumentieren. Nicht beachtet werden etwa folgende Fragen: Was wird überhaupt als ein zu bearbeitendes Problem betrachtet ('objektive' Probleme existieren schließlich nicht)? Wer sieht dies als ein Problem, wer nicht? Bei denen, die hier eine Problemhaftigkeit unterstellen: Welche der unendlich vielen Lösungswege begehen sie, wie unterscheiden diese sich untereinander? Welche Motive stecken hinter diesen Lösungswegen? Etc. pp.Eine Perspektive, die ein objektives zu lösendes Problem und eine ebenso eindeutige Reaktion darauf (welcher Art auch immer, muss ja nicht zwangsläufig gesetzlich sein) ausmachen will, ist daher notwendigerweise verkürzt und übersieht in fataler Weise Personen oder gesellschaftliche Gruppierungen und ihre Machtinteressen (oder überhaupt eine grundlegende gesellschaftliche Einbettung) hinter jeder Form politischer Entscheidungsprozesse. Darauf wollte ich hinaus.
Mit einer solchen Verkürzung wäre bspw. kaum zu erklären, warum auch Asylrechtsverschärfungen implementiert wurden zu einer Zeit, als es nur einen Bruchteil der Zuwanderung der frühen 90er Jahre gab - und als zudem Ein- und Auswanderungen sich fast die Waage hielten. Die (jährlichen) Höchstzahlen der frühen 90er - das muss man sich in dieser hysterischen Zeit immer mal wieder vergegenwärtigen - wurden ja erst 2015 wieder übertroffen.
Das ist wiederum eine ganz andere Ebene, bei der ich zwei Vermutungen anstellen würde: zum einen eine (bezüglich der groben Felder Einwanderung/Ausländer und nationale Identität) deutliche diskursive Verschiebung des gesamten Sozialraums nach rechts, welche natürlich Auswirkungen hat auf legitim Denk- und Sagbares. Ich denke, dass man gerade letzteres einigermaßen valide untersuchen könnte.Zum anderen hat - abseits von der oder gar gegenteilig zu der Ausländerpolitik - eine wahrnehmbare kulturelle Liberalisierung in der CDU stattgefunden (etwa bezüglich der genannten Homo-Ehe), mit der sich der konservativere Teil der Politiker bzw. Anhängerschaft schwer tut. Hier ist allerdings anzumerken, dass solche Liberalisierungstendenzen keine ganz neue Entwicklung sind, sondern sich aufgrund der historisch eher relationalen und wenig manifesten konservativistischen Ideologie immer wieder stellen (müssen) - mit entsprechenden Konsequenzen für die jeweils traditionelleren Konservativen. Aber das führt jetzt eventuell ein wenig zu weit...
Gib' doch einfach zu, dass Du bezüglich der ganz konkreten Behauptung im Unrecht warst, statt so ein theoretisches Geschwurbel abzusondern. Ich erinnere:
Du hattest sinngemäß geschrieben, dass "bereits ein kursorischer Blick in den Art. 16 bzw. 16a GG" ausreiche, um zu erkennen, dass die Union in der Ausländerpolitik nicht immer liberaler geworden sei.
Ich habe darauf hingewiesen, dass
a) die Grundgesetzänderung 1993 (= Art. 16, 16a GG) nicht Ausdruck einer weniger liberalen Haltung der Union, sondern Reaktion auf ein bis dahin nicht vorhandenes Problem war. Als 1973 geborener habe ich die jahrelangen Diskussionen, die schließlich zu der Grundgesetzänderung führten, noch gut in Erinnerung. Aber anstelle meiner persönlichen Erinnerung zitiere ich gerne auch Wikipedia, wo es heißt:
"Neuregelung des Asylrechts 1993
Nach einem sprunghaften Anstieg der Asylbewerber in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren sowie nach heftiger öffentlicher Debatte im Jahr 1993 wurde das bis dahin schrankenlos gewährte Asylgrundrecht aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG herausgenommen und nach Art. 16a Abs. 1 GG übertragen. In die vier folgenden Absätze sind die im Asylkompromiss beschlossenen Einschränkungen eingearbeitet worden: ..."
b) Vorschriften des Asylrechts nicht alleiniger, ja nicht einmal prägender Gegenstand der heutigen Ausländerpolitik sind.
Schon dies belegt, dass sich die These vom "kursorischen Blick" jedenfalls nicht halten läßt, Deine These also unrichtig war. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Selbst dann, wenn Deine - m. E. völlig abwegige - These richtig wäre, dass die Union in der Ausländerpolitik nicht liberaler geworden sei, wäre die These, dass man dies bereits anhand eines kursorischen Blicks in Art. 16, 16a GG erkennen könne, gleichwohl u. a. aus den von mir genannten Gründen unrichtig.)
Das gilt völlig unabhängig von irgendwelchen politikwissenschaftlichen Analysedimensionen zu Gründen für Gesetzesänderungen im Allgemeinen und auch unabhängig von grundsatzphilosophischen Überlegungen zum Problem an sich. Ich bin gerne bereit zu Diskussionen, aber es ist wenig ertragreich, mit jemandem zu diskutieren, der nicht beim Thema bleibt.
Nebenbei: Auch die These, wonach keine "objektiven" Probleme existierten, erscheint mir zweifelhaft. Wenn A dem B mit dem Hammer auf den Kopf schlägt, halte ich das sehr wohl für ein objektives Problem. Wenn ich B bin, ist es zusätzlich ein großes subjektives Problem.