Diesen Thread wollte ich schon lange eröffnen, aber mir fehlte wohl etwas die Muße in der letzten Saison. Da mich das Phänomen weiterhin beschäftigt und eine gewisse Aktualität sich auch in der frühen Phase dieser Saison nicht absprechen lässt, tu ichs einfach jetzt. Es möge sich bitte niemand persönlich angegriffen fühlen.
Aaaalso:
Insbesondere in den letzten Jahren ist mir verstärkt aufgefallen, dass die O-Line im überwiegenden Teil der Bewertungen ziemlich schlecht wegkommt. Letzte Saison beschwerten sich hier Fans von deutlich über 20 Teams über ihre Line, bei etwa 10 Teams war es „eine der drei schlechtesten O-Lines der Liga“ oder sogar „die deutlich schlechteste“. Manchmal kam es mir so vor, als würde ein Wettbieten stattfinden, wer die schlechteste Line hat.
Ähnlich verhält es sich mit den Bewertungen in Previews. Auch hier ist es quasi unmöglich, dass die Line als beste Offensivposition gerankt wird. Meistens ist sie schlechteste oder zumindest zweitschlechteste.
Nach den entsprechenden Spielen lese ich relativ oft von der schlechten Leistung der Line (auch bei Siegen wohlgemerkt), deren Schuld am geringen Output der Offense. Eher selten (Ausnahmen gibts natürlich immer) lese ich dagegen, dass etwa die WRs schuld waren an der schlechten Ausbeute.
Dies sind in gewisser Weise statistische Unmöglichkeiten.
Woran liegt dies nun? Ich habe ein paar Vermutungen, wäre aber für weiteren Input dankbar.
1. Zu hohe Anspruchshaltung?
Liner fallen in der Regel nur durch zwei Dinge auf: Den versemmelten Block (insb. im passing game, wenn dabei ein Sack verursacht wird) und die Strafe. Die Möglichkeit zur Wiedergutmachung wird selten erkannt, da beim langen Lauf des RB und beim weiten Pass des QBs auf den WR logischerweise eben jene Spieler im Rampenlicht stehen.
Dadurch wird der Bereich, in denen man einen Linespieler als gut bewertet, recht schmal. Der WR kann einen Killerdrop haben und im nächsten Spielzug ne falsche Route laufen, ein paar Spielzüge lang null Separation bekommen, aber man wird nach weiteren 6 catches für 120 yards und nem TD von einer guten bis sehr guten Leistung sprechen. Der QB kann viele (!) Incompletions haben, vielleicht auch noch nen Fumble (der dann eh oft der Line in die Schuhe geschoben wird) oder ne INT, aber wenn dann am Ende 300 Yards und 2-3 TDs rumkommen, beschwert sich keiner. Der RB kann sich ebenfalls mehrere Spielzüge im Backfield vom ersten Tackler niederbringen lassen, ohne dass das per se Auwirkungen auf die Bewertung seiner Leistung hat.
Aber der Liner, der zwei Sacks zulässt, aber ansonsten ein herausragendes Spiel macht, auf Stunts und Blitzes hervorragend reagiert, dem RB Lücken öffnet, ein guter Puller und 2nd level blocker ist? Keine Chance, er hatte den Passrusher des Gegners nicht im Griff.
Alles etwas überzeichnet, klar. Aber ist der margin for error bei den Linern nicht wirklich geringer? Geht man nicht oft etwas selbstverständlich davon aus, dass es „normal“ ist, dass die Liner den Skill-Playern in jedem Spielzug Zeit und Platz verschaffen müssen, sozusagen als Basis des Footballspiels? Aber dass jeder Pass ankommt oder jeder Run ein 1st down ist eher nicht…
2. Fehlende Sexyness?
Den Skill-Playern gehört die Welt. Natürlich begeistert ein Barry Sanders-Run mehr als ein perfekt ausgeführter Passblock, selbst wenn es gegen Reggie White ist. Das geht mir ja nicht anders.
Und natürlich ärgert man sich umso mehr, wenn der RB keine Lücken findet oder der QB schneller unter Druck gerät, als es für die Ausführung eines bestimmten Passes nötig wäre.
Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass die Skill-Player bei vielen Fans auf einem sehr hohen Podest sitzen. Kaum einmal liest man, dass der QB, die WR oder der RB eigentlich ein wenig überschätzt sind, weil die Line so verdammt stark ist. Andersrum liest man das wesentlich häufiger. Dabei müsste beides, wenn man dieselben Bewertungsmaßstäbe an jede Position anlegt, natürlich in etwa gleich oft vorkommen.
Hier kommt auch ein wenig meine Abneigung gegen Fantasy Football zum Tragen. Man verfolgt gebannt die Stats bestimmter Spieler, die ja eigentlich erst einmal recht wenig bis gar nichts aussagen. Diese sollen verständlicherweise recht hoch ausfallen. Sind da vielleicht im Mindset der FF-Spieler die O-Liner diejenigen, die noch bessere Stats verhindern und nicht diejenigen, die diese Stats erst ermöglichen? Und die Skill-Player dagegen diejenigen, die das jeweilige FF-Team zum Sieg geführt haben?
Wie gesagt, nur zwei Vermutungen. Vielleicht hat jemand ja noch wesentlich bessere Ideen oder Ansatzpunkte.
Und nur um noch mal sicherzugehen: Bitte keine Diskussionen bestimmter Experten, die jetzt schreiben „Ich hab mein Team viel häufiger gesehen als du, du hast keine Ahnung!“ oder ähnlichen Schmu. Nach der Logik könnte ich widerspruchslos Ryan Fitzpatrick zum besten QB der NFL hochstilisieren.
Es geht hier eher um ein Gesamtbild zur halbwegs korrekten Evaluation der O-Line.